Stresstest im La La Land

Stresstest im La La Land

Deutschland hat ein Stromproblem – die Erneuerbaren sind noch nicht die Lösung. Statt Laufzeitverlängerungen für die verbliebenen Meiler bräuchte es einen Wiedereinstieg. Ein Kommentar von  Jochen Bittner aus der Wochenzeitung DIE ZEIT 20. Juli 2022, 6:07

Atomkraft: Wie hier im Kraftwerk Mühlenberg werden Atommeiler in Deutschland zurückgebaut. Die letzten drei sollen Ende des Jahres vom Netz gehen.
Robert Habecks Wirtschaftsministerium will also „das Bild auch noch einmal größer ziehen“. Ein „Stresstest“ soll in den kommenden Wochen zeigen, ob der Strombedarf des Landes auch unter den gegenwärtigen Bedingungen ohne Atomkraftwerke gestillt werden könnte. Dieser Stresstest ist natürlich vor allem ein politischer für die Anti-AKW-Partei Die Grünen. Dass Habeck in der Atomfrage einen Bruch mit identitätsstiftenden Dogmen nicht ausschließt, ist deshalb anerkennenswert.

Aber liegt, wenn man das Bild so groß zieht, wie es leider nötig ist, die Antwort nicht auf der Hand? Das Land muss sich nicht nur für einen Weiterbetrieb der drei noch laufenden Kernkraftwerke rüsten. Es braucht mehr: eine Debatte über einen begrenzten Wiedereinstieg in die Atomkraft.

Was würde ein Gangster tun?
Denn der eigentliche Stresstest besteht darin, in den kommenden Jahren den enorm wachsenden Strombedarf zu decken für ein Land, in dem nicht nur der Ausbau der Erneuerbaren stockt, sondern dem jetzt auch noch Gas als erschwingliche Brückenlösung wegzubrechen droht. Selbst wenn Wladimir Putin die Ostseeröhre Nord Stream 1 in den nächsten Tagen wieder aufdrehen sollte, plant Russland längst eine Pipeline nach China, die in wenigen Jahren fertiggestellt sein könnte. 

Das neuerliche Regierungsmantra „Wir haben ein Wärmeproblem, kein Stromproblem“ ist deshalb gleich mehrfach falsch. Wir leben nämlich in einem europäischen Strommarkt, in dem nur 40 Prozent des Gases zu Wärmezwecken genutzt wird; der Rest wird verstromt oder für Prozesswärme in der Industrie genutzt. 

Für den Kontinent zählt also sehr wohl jede Kilowattstunde Strom.

Seltsam vergessen scheint auch, dass Deutschland bis 2045 klimaneutral werden soll, was bedeutet, dass Industrie, Verkehr und Wärmesektor dekarbonisiert werden müssen. Und womit soll das geschehen? Genau: Mit Strom – für Wasserstoff, Elektroautos und Wärmepumpen. Der Thinktank Agora Energiewende schätzt, dass sich der Strombedarf der Bundesrepublik bis zum Jahr 2045 etwa verdoppeln wird, auf 1.000 Terawattstunden, und das dürfte noch konservativ gerechnet sein.

Angela Merkels Energiepolitik war ein epochaler Fehler

Das Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr 2030 80 Prozent des Stroms aus Erneuerbaren zu schöpfen, ist – angesichts der heutigen Rate von gut 40 Prozent – leider illusorisch. Daran ändert auch die ständige Beschwörung nichts, den Ausbau beschleunigen zu wollen. Dagegen stehen Material- und Handwerkermangel, Windradgegnerinnen und Trassenprotestler, die sich auf Rechtsweggarantien berufen, sowie europäische Naturschutzvorgaben. Hinzu kommt die ungelöste Speicherfrage für Nacht- und Dunkelflautezeiten. Zu glauben, dass diese Hindernisse verschwänden, wenn man das nur ganz, ganz doll wolle, ist Politik im La La Land. Zudem begibt sich Deutschland gerade in eine neue Diktaturabhängigkeit: Laut Branchenstudien könnten schon bald 90 Prozent des Polysiliziums, das für Solarzellen benötigt wird, aus China kommen.

Auch kritische Bauteile für Windkraftanlagen stammen immer öfter aus dem Land, dessen Regierung mit einem Angriff auf Taiwan droht. Während parallel in Deutschland entsprechende Fabriken schließen.

Wenn das geschieht, wer sitzt dann am längeren Sanktionshebel?

Angela Merkels Energiepolitik war gut gemeint, aber in der Ausführung ein epochaler Fehler, schon wegen des Unökologischen der Reihenfolge, erst aus dem Atomstrom und dann aus den Fossilen auszusteigen. Sicher, es bleibt das richtige Ziel, das Land komplett aus Erneuerbaren zu versorgen. Aber auf dem Weg dahin hat Deutschland auf die falsche Alternative gesetzt. Es gibt keine sauberere, sicherere und verlässlichere Energiequelle als Kernkraft, um den Ausbau zu flankieren.

Ja, Tschernobyl und Fukushima waren Fanale. Aber wären diese Unglücke auch mit denjenigen Reaktoren passiert, die heute in Deutschland laufen? Fachleute bestreiten das vehement. Nach Fukushima habe es zudem Robustheitsprüfungen gegeben, die selbst Flugzeugeinschläge einberechnet hätten. Aber würde ein GAU, so unwahrscheinlich er ist, nicht bedeuten, dass eine ganze Region unbewohnbar wird? Ja. Nur, passiert durch den Klimawandel nicht genau dies in einem viel größeren Maße – und zwar mit Sicherheit?

Es sind diese Fragen, die in einen zeitgemäßen Stresstest gehören, der das wirklich große Bild in den Blick nimmt. Aber bitte schnell. Die Stromuhr tickt.